Erfahrungen machen

"... das eine der überraschenden Erfahrungen in der Erkenntnis liegt, das Verstehen nicht willentlich ist (obwohl es guten Willen dazu braucht), Einsicht nicht erobert werden kann, sondern von allein kommt. Und zwar nicht, wann wir wollen, sondern wann sie will. Gelassenheit und Wartenkönnen zählen daher zu den hermeneutischen Kardinaltugenden. Und auch das Wartenkönnen auf Erfahrung"

S. Kleinschmidt: Gegenüberglück

Zu sich kommen

Abend im März

Das silberne Maisstroh vom vorigen Jahr
weht vergessen und schütter wie bleichendes Haar
auf dunkelnden Äckern im Winde.
Vom Dorfe her singt das Gesinde
die ältesten Lieder von Liebe und Tod.
Es bebt in den Pfützen das Abendrot,
und der Entenschrei schnarrt in den Auen.
Verloren im bebenden blauen
schattigen Schilfe ein Taucher weint.
Da erschreckt sich dein Herz so, als wär es gemeint
und erwartet von jeglichen Dingen.
Und leise beginnt es zu singen. 

 

Christine Lavant

Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte  ISBN (Print) 978-3-8353-1391-0
Herausgegeben und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 
Wallstein Verlag, Göttingen 2014 www.wallstein-verlag.de

Die Mit-sich-selbst-Sprache

"Da stehe Ich mir selbst im Weg" - jeder hat diesen Satz schon einmal gesagt und gehört. Er kommt uns selbstverständlich vor. Wenn ich mir etwas Zeit nehme und ihn genau betrachte, habe ich einen ganz normalen Satz vor mir: Es gibt ein Subjekt, ein Objekt und ein Verb. Nur dass all die Subjekte und Objekte ein und die selbe Person sind, nämlich Ich-Selbst. Wer ist dieses Ich und wer ist dieses Selbst, das sich da im Wege steht? Und was ist dann mit mir gemeint?

Es wohnen und agieren wohl verschiedene Protagonisten in meiner Seele. Einer möchte wo hin gehen - das Selbst - und einer stellt sich diesem in den Weg - das Ich. Einer möchte sich auf einen Weg machen, der andere möchte ihm dort im Wege stehen. Außerdem gibt es noch einen, der das alles beobachtet, erzählt und kommentiert. Wer hat jetzt recht, auf wenn soll ich hören? Bin ich das Ich und stehe mir damit im Weg. (Was bedeutet jetzt gleich dieses mir?) Oder bin ich eigentlich das Selbst - aber warum sage ich dann Ich und nicht Selbst zu mir? 

Und wenn ich jetzt frage: Auf wenn soll ich hören? Wem kann ich vertrauen? Wer ist jetzt wieder dieses Ich das fragt? Ist das Ich nicht eigentlich jemand, der dem Selbst im Wege steht und damit ein unangenehm bremsender Zeitgenosse? Oder ist es gut, dass da jemand bremst und mich vor unbedachten Handlungen oder Gedanken schützt? Warum will dieses Ich jetzt auf jemanden hören? Wer da drin meint es gut mit mir? 

Soll ich jetzt gehen oder mir lieber selbst im Wege stehen?

Verwirrt springe ich von Ich zu Selbst und Selbst zu Ich. Nur allein noch mehr Möglichkeiten und Informationen zu haben, hilft mir nicht weiter. Wer ist jetzt wieder dieses Mir? Ich traue mich schon gar nicht mehr Personalpronomen zu benutzen.

Also, wer ist da eigentlich am "inneren Mikrofon"? Wer hat die Hoheit zu allen zu sprechen und mich auch noch nach außen zu vertreten? Wer diktiert diesen Text? Und wer stellt all diese Fragen? 

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Lange habe ich nachgedacht, wie ich diese Verwirrung auflösen kann. Ich bin jetzt so mit mir verblieben - (oder soll ich sagen: wir sind so mit uns verblieben?): Das Ich, das sich selbst im Weg steht, ist wohl die meiste Zeit ein etwas hilfloser Pressesprecher, der von einem Problem berichtet. Das Selbst, das nicht voran kommt, ist ein Parlament, mit all seinen vielen, zum Teil kruden Ideen (Autobahnmaut, wilder Sex mit der Nachbarin oder gut bezahlte Beratertätigkeit). Der Vollständigkeit halber bräuchte ich noch einen Regierungschef, der am Ende entscheidet sich weiter im Weg zu stehen oder diesen frei zu machen. Ich hatte dabei kurz an eine Art inneren König gedacht, das aber schnell wieder verworfen. Ich müsste dann ja wieder auf jemanden hören und könnte nicht mehr machen, was ich will. 

Als letztes, ohne Sie damit noch weiter verunsichern zu wollen: Wenn es schon mit Ich und mir und selbst so schwer ist, wo da doch nur eine Person beteilig ist, wie verwirrend kann es dann erst werden, wenn zwei Ichsmirsuns selbst beteiligt sind, z.B in dem Satz: „Ich liebe Dich“

 

Nicht die Zeit vergeht - wir vergehen ...

Dieser Satz schwirrt mir seit einigen Tagen durch den Kopf - ich habe ihn aufgeschnappt, im Radio, im Netz - ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur: Er geht nicht mehr weg. Er windet sich durch meine Gedanken und verändert meinen Blickwinkel.
Wenn die Zeit verginge, würde ich mein Leben, meine Gefühle von Außen durch die vergehende Zeit hindurch sehen - wenn ich vergehe, mich verändere, entwickle, blühe, am Ende auch welk werde, dann verlasse ich den oft besserwissenden und besserwisserischen Beobachter und erlebe mein Sein. Ich fühle mich. Der Satz führt mich direkt in mein Gewahrsein. Der Blick auf die Uhr dagegen - der Blick auf die äußere Bestimmung - führt mich oft aus dem Erleben, führt mich aus dem Jetzt in das Nachher und Dann. 

Perspektivwechsel - tiefenpsychologisch: Überstigsfähigkeit - erweitert unsere Möglichkeiten. Wir können die Dinge außen und die Dinge innen anders verknüpfen und ihnen andere Bedeutungen zuweisen. Wir können so mancher alten Erfahrung und daraus resultierendem Mustern ein schnelles Schnippchen schlagen. Mich interessiert am Meisten der innere Perspektivwechsel von Beobachter zu Fühlenden. Das Ich wandert aus der Wahrnehmung der Fakten in das Erlebende Selbst: Wir sind verbunden. Begegnung der Seelen - für mich einer der zentralen Wirkfaktoren von Psychotherapie - kann nur zustande kommen, wenn beide mit sich selbst im Erleben sind. Vielleicht ist es sogar so, dass die Therapie in dem Moment ihrem Ende zugeht, wenn Klient und Therapeut beginnen sich ersthaft und nachhaltig zu begegnen. Jemandem begegnen zu können, heißt bei sich sein zu können. Bei sich sein zu können, heißt ausreichend mit dem eigenen Selbst befreundet und bekannt zu sein. Mit dem eigenen Selbst im Reinen zu sein, heißt nicht mehr an sich zu leiden.

Probieren Sie folgende Übung:
Machen Sie zwei, drei normale Kniebeuge. Machen Sie jetzt wieder einige Kniebeuge, stellen Sie sich diesmal dabei vor, dass Sie wenn Sie nach oben gehen nicht ihren Körper nach oben drücken, sondern die ganze große Erde unter Ihren Füßen diesen halben Meter nach unten drücken. Wenn Sie in die Knie gehen, ziehen Sie diese ganze schwere Erde einen halben Meter mit Ihren Füßen nach oben. Sie bleiben wo Sie sind. Nicht Sie bewegen sich rauf und runter, die Erde bewegt sich.

Viel Spaß
Fabian Lenné 

PS: Mir persönlich fällt das runterdrücken leichter als die Erde wieder hoch zu ziehen

Liebe ist wichtig

Gestern auf dem Nachhauseweg von der Praxis, wartete ich auf die U Bahn und beobachtete einen jungen Mann, der offensichtlich große Probleme mit seiner Freundin hatte. Er schrie und flehte abwechselnd in sein Handy. Drohte ihr und lockte sie, legte immer wieder auf und rief sie erneut an. 

Hinter all seiem Ärger wurde immer deutlicher seine große Angst verlassen zu werden sichtbar. Als unfreiwilliger Zuschauer wurde mir unmissverständlich vor Augen geführt, wie zentral das Dazugehören für uns Menschen ist.